Überleben ist nicht genug

Warum die HBO-Serie STATION ELEVEN gerade die beste nicht verschreibungspflichtige Medizin gegen Covid-Blues darstellt, und außerdem die gewohnten Genre-Grenzen der Postapokalypse sprengt.

Nach zwei Jahren Pandemie sich wir alle reif für ein Licht am Ende des Tunnels, selbst wenn es sich nur als Lampe eines Leuchtfischs auf Landurlaub entpuppen sollte, der uns verschlingt. Aber in STATION ELEVEN lauern uns weder Kannibalen auf, noch müssen wir vor Zombies die Flucht ergreifen, ja nicht einmal Viren verursachen uns Fieber, sondern höchstens der bevorstehende Theaterauftritt – Halt! Stop! Bitte nicht gleich weg laufen! Auch diejenigen können hier beruhigt weiterlesen, die dem Theater um das Theaterspielen noch nie etwas abgewinnen konnten, ich bin ja selbst hochgradig allergisch dagegen.

Leider ist es nicht einmal einem Virus, das 99% der Weltbevölkerung dahin gerafft hat, gelungen, die Wahlverwandtschaften von einander laufend betatschenden Theaterfamilien zu zerstören. Wie, was, welches Virus? Nun, ich hab nur vermieden zu erwähnen, ob die Menschheit hier an oder mit dem Fieber starb, der Umstand ist übrigens auch der Serie angenehm egal. Der Clou ist, wie es ihr gelingt erzählerisch geschickt am Sterben vorbei, und stattdessen auf das Zwischenmenschliche zu schauen. Das beginnt schon in der ersten Szene, wenn jemand im Publikum als erster von seinem Sitz aufsteht, weil etwas auf der Bühne nicht gespielt wirkt, sondern sich als echter Notfall entpuppt. Darauf angesprochen wird er später sagen, dass er vielleicht gar nicht der erste gewesen sei, der den gleichen Gedanken gehabt habe. Wie lange dauert es bei uns selbst, ehe wir unsere gesellschaftlichen Zwänge, antrainierten Verhaltensweisen und Termine hinter uns lassen, weil jemand unsere Hilfe benötigt? Hier sehen wir bequem von Zuhause aus anderen dabei zu, aber die Frage schwebt von da an über unseren Köpfen: was hätten wir an ihrer Stelle getan? Nur noch dieses eine Work-Meeting, danach isolieren wir uns dann Zuhause und rufen unsere Liebsten an? Oder auf heute übertragen: Wenn jemand vor uns hustet, machen wir dann einen Schritt auf ihn zu oder schon instinktiv zwei zurück, während wir den Sitz unserer Maske prüfen?

STATION ELEVEN ist ein Plädoyer für Zwischenmenschlichkeit und Zivilcourage, eine Einladung über unsere eigenen Schatten zu springen, von denen einer zufällig auch dort von einem Virus geworfen wird. Dabei steht endlich einmal nicht das Sterben, sondern das Leben – nicht das bloße Überleben – im Zentrum. Eine ziemliche Leistung für eine Serie, die sogar ihre eigenen Dreharbeiten aufgrund des Ausbruchs einer echten Pandemie unterbrechen musste.

Der Trailer verrät für meinen Geschmack ein bisschen zu viel.

Was hält uns am Leben?

Neben der Theaterfamilie gibt es auch andere Familienmodelle, die einem Halt geben können, und auch solche lässt uns die Serie entdecken. Wer nicht einmal die hat, zieht die Kraft zu leben vielleicht aus einem Stück Kultur, und dabei ist nicht einmal relevant, ob man sie selbst schafft oder sich nur als Rezipient in ihr gespiegelt sieht, wenn es einen nur anrührt. Stellvertretend für so ein Stück Kultur steht die titelgebende Graphic Novel, deren Entstehung wir in der Vergangenheit ebenso sehen, wie dessen sehr unterschiedlichen Einfluss auf zwei Schlüsselcharaktere in der Zukunft. Man sieht daraus einzelne Zeichnungen, und viele Zitate begleiten uns die Serie über, aber der tiefere Sinn ist schlicht, dass es symbolisch für jene Werke steht, die unsere Seele ansprechen und ein Leben lang begleiten. Etwas, das hoffentlich jeder von uns hat oder bald kennenlernt, egal ob das ein Buch, eine Band, eine fixe Idee, ein Film oder meinetwegen sogar vielleicht eine Theatertruppe ist.

Das entscheidende Element ist, dass Kultur in Bewegung bleiben muss. Nicht nur physisch wie die „Traveling Symphony“, die auf ihrer jährlichen Tour die verstreuten Kolonien der Überlebenden mit einem neuen Programm abtingelt, sondern auch die Stücke selbst. Erst dann wird „Hamlet“ (oder jedes andere Stück Kultur) wieder aktuell, wenn es der Inszenierung gelingt, darin auch die Gegenwart sichtbar zu machen. Man muss kein Shakespeare-Kenner sein, um zu verstehen, dass es auf die Auseinandersetzung mit dem Stoff ankommt, wechselnde Besetzung, Perspektiven und auch Neuanfänge. Dabei zu Scheitern ist immer eine Option, und auch unvollkommene Werke müssen vielleicht genauso in die Welt entlassen werden, wie unsere Kinder, auch wenn wir sie dort nicht mehr rund um die Uhr beschützen können. Auch das erzählt STATION ELEVEN.

Aspekte der Heilung

Die Älteren tragen hier noch die Traumata der Katastrophe in sich, während die danach Geborenen bereits unbekümmerter sind, und die allzu strengen Regeln lieber etwas mehr dehnen, oder gleich ganz hinter sich lassen würden. Die typischen Konflikte der Erziehung, das Loslassen und Festhalten, wie auch die Überwindung oder Verarbeitung von Traumata, verschmilzt auch formal mit der Serie, wenn sie in ihren 10 Folgen zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her springt. Abwechselnd folgen wir darin der Geschichte einer der Hauptfiguren, und wechseln dann wieder zu den fortlaufenden Konflikten in die postapokalyptische Gegenwart. So tonal verschieden die Episoden dabei auch sein mögen, so verschieden sind auch wir als Menschen. Selbst in den tragischsten und düstersten Momenten findet sich immer noch Lichtblicke und sogar Raum für Humor, der einen das alles besser ertragen lässt.

Keine Serie seit THE LEFTOVERS hat derart gelungen und berührend mit existentiellen Fragen gespielt, und wenig verwunderlich steckt einer der Autoren aus dessen Writers’ Room als Showrunner hinter dieser: Patrick Somerville. Er hat das Buch von Emily St. John Mandel nicht nur als Fernsehserie adaptiert, sondern ist auch in der Umsetzung ihrem tieferen Sinn gerecht geworden. Er hat sie nicht gänzlich neu erfunden, sondern nur die zugrunde liegende Konstellation der Figuren anders gewichtet und in überraschend neue Beziehungen zueinander gesetzt. Das Ergebnis sollte selbst Buchkennerïnnen gleichermaßen gefallen wie überraschen, die Autorin jedenfalls liebt laut eigener Aussage die Änderungen sehr. Gibt es ein größeres Lob, eine bessere Empfehlung? Ich für meinen Teil will jetzt auch unbedingt das Buch lesen (das ich zu meinem Entsetzen eben auf meiner Leseliste gefunden habe, wo es schon seit ein paar Jahren auf mich wartet).

STATION ELEVEN bringt nicht nur ungewohnt viel Farbe in die Postapokalypse, sondern hoffentlich auch wieder genug in unser aller Leben, um gegenwärtig drohende Katastrophen in letzter Minute abzuwenden, indem wir im richtigen Moment aufstehen, wo alle anderen noch sitzen geblieben sind.

STATION ELEVEN kann man auf Starz ansehen sowie als Zusatzangebot im Rahmen von Amazon Prime buchen.

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