Schwärmintellektuelle

Moses kommt vom Berg, er schleppt schwer an den 10 Geboten. Er räuspert sich, und noch bevor er das Erste vorgelesen hat, melden sich erste Stimmen aus der Menge: “Lauter!” – “Dauert das noch lang?” – “Hat wer meinen Hund gesehen?” – “Seht mal da! Der Busch brennt!” – “Löschen wir ihn!” – “Lööö-schen!!! Lööö-schen!!!” – Und das war’s dann, der Brand war schnell unter KonTrolle und Gott durchnässt. Kannste voll dran glauben.

LES REVENANTS
Der Staudamm aus der tollen französischen Serie LES REVENANTS

Wir wussten schon immer alles besser. Wir wissen wie DEXTER hätte aufhören müssen, das BREAKING BAD Finale hätten wir selbstredend noch besser gestaltet, und kommt uns besser gar nicht erst mit LOST. War ja eh klar. Die Welle – ach was – den Tsunami der Entrüstung haben wir ja schon längst kommen sehen.

Reif für die Insel” (Peter Cornelius)

Aber wo wir gerade so nah am Wasser sind: Im Meer der Fans entwickelt sich eine Masse an Möglichkeiten und umspült beständig wiederkehrend die Inseln der Film und Serienschöpfer – mal unterspülen sie deren Ideen, die dann in sich zusammen krachen, ein anderes Mal bricht sich die Welle am soliden Fundament einer Insel und sprüht vor Wut schäumend eine Gischtfontäne darüber. Manches versinkt auf ewig im Meer, anderes wächst aufgrund seiner Vulkantätigkeit stetig über sich hinaus, manche Atolle geraten in Vergessenheit und lohnen wiederentdeckt zu werden. Das Wasser hat dabei den Vorteil, dass eine neue Strömung es an andere Orte führen kann, während die Ideen und ihre Schöpfer auf ihren Inseln fest sitzen, lieber bleiben wo sie sind, und nur dann weiter ziehen, wenn es auf ihrer Insel nichts mehr zu tun gibt, sie “fertig” mit ihr sind. Das Wasser kann seine Meinung ändern, mal Ebbe und ebenso Flut sein, während eine Insel zu etwas stehen muss – auch zu seinen Schwächen. Aber jeder dieser Autoren auf seinen Inseln weiß, dass am Ende immer das Wasser gewinnt, dass von ihren Werken vielleicht nichts bleiben wird, und ihr Material als Baumaterial an anderer Inseln Strand gespült wird. Autoren haben Respekt vor dem Wasser, und besonders vor der darin gelegentlich anzutreffenden Schwarmintelligenz. Jetzt komme ich zwar vom Wasser zu den Fischen, aber auf der Suche nach einem geeigneten Bild für die Wechselwirkung zwischen Autoren und Fans wollte ich so lange wie möglich ohne konkrete Namen auskommen, damit ich niemandem auf die Füße trete, und aus den Untiefen des Meeres kein Lampenfisch aufsteigt, mir ins Gesicht leuchtet, mich blendet und verschlingt, oder mir seinen Giftstachel in den Allerwertesten rammt – Verzeihung, ich war noch nie eine Leuchte bei Meerestieren. Unter denen gibt es immer solche, die alles erraten, noch ehe die zugehörige Idee vom Insel-Autoren (dazu passt deren Insolvenz) in Stein gemeißelt ist, oder gar eine bessere Idee haben, wie es mit deren Geschichte weiter gehen könnte. Wäre es nicht fantastisch, wenn wir dieses so oft brach liegende Potential in Zukunft für bessere Geschichten nutzen könnten?

Die gute Nachricht ist: Ja klar! Nur ist die Schlechte, dass wir davon wohl noch weit entfernt sind. Versuche in dieser Richtung gab es schon. Den vielleicht ambitioniertesten Anlauf in dieser Richtung unternahm 2010 Current TV, zu dem die Community die Drehbücher beisteuern sollte. Das klang vielversprechend, und mit Will Wright, dem Gamedesigner hinter Titeln wie SIM CITY, den SIMS oder SPORE, war noch jemand an Bord, der dem Ganzen vielleicht tolle Impulse geben konnte. BAR KARMA war geboren. Da ihr vermutlich noch nie davon gehört habt, könnt ihr euch den Erfolg des Konzeptes vermutlich selbst ausrechnen. Nach der Pilotfolge habe ich nicht mehr eingeschaltet. Aber warum hat es nicht funktioniert? Nun (ausgerechnet?) Damon Lindelof hat es schon damals perfekt auf den Punkt gebracht:

“Unfortunately, there is an inherent paradox implicit in this idea. If there is a plan, there’s no room for the input of others, which would inevitably completely derail that plan. So in order for Bar Karma to work, the audience would have to know going in that this is a ‘make it up as you go along’ scenario. This may be fun at first, but I believe ultimately it will feel like a shaggy dog story. Characters need to have planned arcs. Stories need to feel like they’re leading somewhere.” (Quelle)

“Art is not a democracy. People don’t get to vote on how it ends.”
(George RR Martin)

Es braucht eben doch zunächst immer Autoren, die wenigstens das Gerüst einer Geschichte zur Verfügung stellen, und dann kann man weiter sehen. Man sollte wissen wohin die Reise geht, so wie beispielsweise George RR Martin bei seinem LIED VON EIS UND FEUER weiß, wie es aufhört, nur bleibt er in seiner ursprünglich als Trilogie geplanten Serie immer wieder auf Nebenstraßen hängen, wo Dinge passieren, die ihn magisch anziehen. So ist es nicht verwunderlich, dass er mittlerweile mit sieben Büchern rechnet, das sich anbahnende Achte nimmt er hartnäckig nicht zur Kenntnis. Kein Lektor, der bei Verstand ist, wird es wagen ihn dezent darauf hin zu weisen, dass man davon gut und gerne große Teile vielleicht anderweitig auslagern könnte, und dass er sich auf die Haupterzählung beschränken solle. Diese Nebenstraßen machen beim Schreiben oft den größten Spaß, gerade wenn man eher zu den “Gärtnern” und weniger zu den “Architekten” unter den Autoren gehört. Und warum? Weil man selber noch nicht weiß, wo einen die Geschichten hinführen werden. Genau das macht es so spannend. Stephen King schreibt sogar ausschließlich so, was man nachlesen kann. Die älteren Fans seiner Bücher werden mit Horror an die Erzählung vom DUNKLEN TURM zurück denken, die ebenfalls kein Ende nahm, wenn hier auch erst der Schluß für die Serie im Autor heranreifen musste. King schreibt auf diese Weise auch erfolgreich mit anderen Autoren zusammen, wie seinerzeit mit Peter Straub jeweils ein Kapitel im Wechsel bei DER TALISMAN, ebenso wie bei dessen Fortsetzung. Das funktioniert so ähnlich wie bei einem Briefwechsel, nur dass eben beide Seiten das Schriftstellerhandwerk beherrschen. Auch Serienschöpfer können sich mehr auf die “Gartenarbeit” verlassen, vor allem dann, wenn sie gar nicht wissen, wie viele Staffeln es überhaupt werden.

“When it comes to the past, EVERYONE writes fiction.” (Stephen King)

Schwieriger wird es an dem Punkt, wenn aus dieser “a man walked into a bar”-Idee eine Geschichte werden soll. Der Spruch “Ich hab’ da eine Idee für einen Film…” ist meistens eben nicht mehr als genau das. Eine Idee. Nicht zwei… hundert… tausend. Trotzdem wäre es schade, wenn die eine oder andere überragende Idee darunter verloren gehen würde. Nun, manchmal kommen sie durch, wie beispielsweise am Ende von BREAKING BAD, denn Vince Gilligan hatte ein offenes Ohr – ohne Kevin Cordasco hätte es wohl kein Wiedersehen mit zwei lange abwesenden Figuren gegeben (SPOILER-Warnung vor diesem Artikel). Ansonsten hat sich Gilligan aber vom Internet fern gehalten, eben aus Angst mit zu vielen guten Ideen konfrontiert zu werden, die besser sein könnten, als seine eigenen – was gar nicht so schwer ist, wenn man sich mal seine ganz uneitel eingestandenen, verworfenen Vorschläge im letzten Breaking-Bad-Insider-Podcast so anhört. Um sich vor gröberen Schnitzern zu bewahren hat er schließlich sein Autoren-Team. Irgendwo muss man nur die Grenze ziehen. Nicht umsonst ist eines der zutreffendsten Sprichwörter in nahezu jeder Sprache der Welt: “Zu viele Köche verderben den Brei.” Das “Zuviel” an Zutaten können Redakteure, Produzenten, Schauspieler und Autoren ebenso sein wie Fans, die die Weisheit mit Löffeln gefressen haben, oder ihre Serie so sehr Lieben, dass sie sie damit erdrosseln. Die eingebrockte Suppe müssen sie ja nicht bis in alle Ewigkeit selbst auslöffeln. Womit wir wieder bei (natürlich!) Damon Lindelof wären, der es auch hier wunderbar auf den Punkt bringt:

“All story is reflective, designed to illuminate its own characters and the themes surrounding them. When a show is as brilliant as Breaking Bad, it’s not just about the people we’re watching, it’s about those watching them. About us. In other words, the better the show, the deeper it forces you to look at yourself. On Sunday night, I took a good long look at myself, and this is what I found staring back …

I agreed to write this piece because I am deeply and unhealthily obsessed with finding ways to revisit the Lost finale and the maddening hurricane of shit that has followed it.

And this morning? I am Walter White. Arrogant. Conceited. Selfish. Entitled. Looking for ways to blame everything and everyone but myself, even though it is perfectly clear the situation I find myself in is of my own making. And here’s the worst part: I’m still naive enough to believe I can attain some level of redemption.“ (Quelle)

“I love having written.” (Vince Gilligan)

Es braucht also doch noch immer jemanden der sagt, wo es lang geht, einen Autoren, einen Showrunner, jemanden, der sich vielleicht nicht alles anhören muss, aber bitte jene Ideen, die relevant sind. Wie könnte das in Zukunft, im Netz aussehen? Neben Crowdfunding zur Finanzierung, wie kann man Fans besser mit einbeziehen? Vielleicht mit “Titanpads” und “LiquidFeedback” um dann ebenso erfolgreich damit zu sein wie die Piraten in der Politik? Ja, puh… warum eigentlich nicht? Allerdings bietet sich das bei Serien mehr an, weil sie fortlaufend sind. Hier sind die Autoren sowieso darauf vorbereitet, dass sie neue Ideen brauchen, alte Fehler ausbügeln können, sich von der Besetzung inspirieren lassen können und dergleichen mehr. Schreiben hieß schon immer umschreiben. Außerdem gibt es eine Phase, in der man auch Fan-Input berücksichtigen könnte, um sich dann wieder ins Kämmerlein des writer’s room zurück zu ziehen. In Wellen eben. Eine Community kann ein solcher Quell sein, der in Zukunft Autoren mit Frischwasser versorgen könnte, oder wie Elio und Linda George RR Martin durch das Dickicht seiner eigenen Phantasie helfen – wenn er sie braucht. Autoren brauchen uns, und je früher sie hinter ihm stehen, desto besser. Und solche Leute an der Basis können den tobenden Mob moderieren, und den Autoren den Rücken frei halten. Denn die müssen ihre Ideen auf der anderen Seite zur Genüge gegen Redaktionen, Produzenten und Stars verteidigen. Da ist es gut, wenn man sein Autoren-Team hinter sich weiß, aber es wäre noch eindrucksvoller, wenn dort auch zahlreiche Fans als Gegengewicht zu “Marktstudien” und den Quoten stünden.

“Synchronschwimmen ist kein Sport” (Al Bundy)

Manches können wir Fans also tatsächlich besser. Gerade eine Community wie moviepilot, wäre dazu prädestiniert Ähnliches zu leisten. Nicht alle hier. Aber viele. Na gut, einige. Wenige. Mit denen werkelt man dann an Listen herum, schmiert in Gästebücher, diskutiert endlos und schickt Nachrichten hin und her. Was fehlt? Ein Arbeitszimmer, in das man Leute einladen kann, um vielleicht an etwas zu arbeiten, was man später der Community vorstellt? Ein Serienkonzept zum Beispiel. Man könnte mit konkreten “Aufgaben” aus dem Schreibzimmer kommen, Recherche-Aufträge verteilen, nach Tipps fragen, und die Schwarmintelligenz der Community gezielt abfragen und belohnen. Mit Credits im Abspann, Besuchen am Set, und was sich sonst noch so anbietet. Es gäbe hier einige fähige Leute, mit denen ich sofort das eine oder andere Serienkonzept aus meiner Schublade zur Reife entwickeln würde – ohne gleich zu wissen, wie es danach weiter geht, wer produziert, und wo das mal laufen soll. Auf so ein Experiment würde ich mich sofort einlassen. Also liebe Redaktion, geht da was? Und liebe Community, was haltet ihr davon? Wie könnte das aussehen, was fehlt, was fällt euch ein? Strengt euch an, und tragt etwas dazu bei, revolutionieren wir die Urheberschaft, indem wir sie remixen. Geschüttelt, nicht gerührt. Wer nur draufhauen will um seinen Spaß zu haben, bitteschön. Es ist ein schmaler Grat von gerade einmal einem Buchstaben, der die Schwarmintelligenz von seiner dunklen Seite, der Schmarnintelligenz trennt. Wovon wir alle in erster Linie profitieren würden, wären bessere Umgangsformen. Dann könnte man sich wieder mehr auf das Wesentlichen konzentrieren. Die Inhalte, unsere Inseln. An welche Insel euch die Strömung auch spült: Schließt zuerst Freundschaft mit den Eingeborenen. So steht es geschrieben, so soll es sein. Als einst Al Bundy vom Berg herunter stieg, hat er es so, und nicht anders verkündet:

“Das sind eure 10 Gebote!” – “Aber Al, das sind nur neun…” – “Das! Sind eure NEUN – Gebote!” (Quelle der korrekten Übersetzung)

Crosspost des gleichnamigen Speakers’ Corner Artikels auf moviepilot.

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