“Frauen und Kinder zuerst” rufe ich, während ich vom Deck springe, ins Mittelmeer, wo gerade unser letzter Rest Würde ertrinkt, unangetastet. Bilder wie aus einem Albtraum, der längst zu einer Realität geworden ist, an die wir uns gewöhnt haben, wie an die Erzählungen von Konzentrationslagern, und die Versicherung, dass wir selbst es damals anders gemacht hätten – mit dem Wissen von heute, versteht sich. Wir zeigen mit dem Finger auf Trump und Kim und rufen “Haltet den Dieb!”, weil Besitzer einer Badehose unter Polizeischutz darum fürchten, dass ihnen auch die von einem dieser mittellosen, um ihr Leben strampelnden Nichtschwimmer im Mittelmeer streitig gemacht werden könnte, sollten Vereinzelte es wider Erwarten doch an unsere Ufer schaffen.
Fremd geworden sind mir die Vorgänge in der Welt, oder schlimmer noch, merkwürdig vertraut, wie sie mir einst beim Quellenstudium zur Vorgeschichte des dritten Reichs begegnet sind. Die Recherche dazu hat mich nie los gelassen, sie beschäftigt mich immer wieder, und die Grenzen zur Gegenwart sind komplett verwischt, der Kreis der Geschichte hat sich geschlossen, um uns, und wer jetzt nicht aufsteht und protestiert, gehört bald zu den Abtransportierten, egal wie weiß, männlich, jung und Deutsch sie heute auch sein mögen – spätestens morgen erweist sich jeder als zu blauäugig.
Wer nicht einmal das mehr erkennt, kann schon als verloren betrachtet werden. Wir sind längst von Menschen umgeben, die nur noch ihrer eigenen Weltanschauung vertrauen, die so hermetisch abgeriegelt ist, dass keine gegenteilige Meinung sie auch nur erreicht. Wie bei den Suchworträseln lesen sie aus dem Buchstabensalat nur jene Worte heraus, die sie sehen wollen, selbst wenn es in den Artikeln um das genaue Gegenteil ging. Die Kommentar- und Leserbriefspalten sind so vergiftet wie die Medien in denen sie erscheinen. Die Sensibleren unter uns sind schon lange ausgestiegen, weil sie den allgegenwärtigen Hass nicht länger ertragen haben, wir sind geblieben um dem etwas entgegen zu setzen, und werden doch von Tag zu Tag müder dabei.
Die Medien sind kaputt, die sozialen wie die asozialen, in Bild und Ton nicht mehr erwähnenswert. Das Internet interniert uns, lähmt uns, anstatt uns zu verbinden, wir müssen raus, uns sehen, uns umarmen, etwas sichtbar machen, was gesellschaftlich verloren zu gehen droht: keine Angst zu haben, zu Widersprechen, wo Menschenrechte gebrochen werden und die Wirklichkeit zurechtgebogen wird, zur Tat schreiten statt zum Mittäter mutieren, mehr aufrechten Gang in unserer zu verteidigenden Demokratie wagen.
Das klingt zu Recht nach Willy Brandt, den vor allem die SPD schon lange begraben zu haben scheint. Nach der Bundestagswahl 2017 fühlte ich ein letztes Aufbäumen der alten Partei, als sie sich den Koalitionsverhandlungen verweigerte und in die Opposition begeben wollte, um der AfD Paroli zu bieten. Dann kam alles anders, Kevin war allein im Willy-Brandt-Haus und nach seiner Rede auf dem Parteitag, bei dem ein Hauch demokratischen Diskurses aufkam, wollte ich ihn, das und die, für die er steht unterstützen, trat in die Partei ein, aus der ich jetzt wieder ausgetreten bin, das entsprechende Schreiben ist zusammen mit dem Parteibuch und dem anderen Krempel gerade auf den Weg nach Berlin.
Eigentlich wollte ich etwas unterhaltsames über meine Zeit in der SPD schreiben, weil der Weg in die Partei für mich schließlich so begonnen hatte, als mich der Vorsitzende des Internationalen Ortsvereins der SPD anschrieb – aus der Mongolei. Das klang wie der tolle Auftakt zu einer Kabarettnummer, dann lernte ich aber viele engagierte Leute an der verstreutesten Basis kennen, die die Partei zu bieten hat, wo ich genau jenen Stimmen begegnete, die in den letzten 30 Jahren nach außen zunehmend ungehört geblieben sind. Viele sind leiser geworden, nach und nach geschrödert worden, haben Hartz zähneknirschend mitgetragen, wollten immer nur das Beste und das Ergebnis bekam doch nur den wenigsten gut, obwohl genug für alle da wäre. Ausgerechnet das Volk hat keine Lobby, ängstliche, eingeschüchterte Funktionäre folgen Leitanträgen, statt mal diejenigen zu heiraten, die sie selber lieben. Danach leiden sie in ihren unglücklichen Ehen, bis der letzte Rest an Selbstachtung verbraucht ist, und so stimmen sie auch ab, einzig um ihr jahrelanges Leiden zu legitimieren. Kann jemand so bescheuert sein? Ja, wir Deutschen sind es. Deutscher geht es gar nicht. Wollt ihr den totalen Scheiß? Immer. Jedes verdammt mal.
Einmal mehr Zeit, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Und was soll ich sagen, wir stellten in kürzester Zeit etwas auf die Beine, digitale Kommunikationswege, Briefe, Anschreiben, Threads, Kommentare, lebendige Debatten. All das gipfelte in einer ersten gültigen Abstimmung, die schließlich im Mittragen der Kandidatur einer Gegenkandidatin gipfelte. Hier kam tatsächlich so etwas wie Leben in die Bude, obwohl die Abstimmung über den Koalitionsvertrag und den Parteivorsitz anders ausgingen, als ich es mir gewünscht hätte, aber immerhin war hier mal ein demokratischer Prozess am Werk, und ich war Teil davon. Der blanken Tatenlosigkeit war etwas entgegen gesetzt, aber den Anschein von hohlem Aktionismus konnte nichts davon abschütteln. Anderswo nennt man das Beschäftigungstherapie. Ernüchternd und erschreckend an all dem war, wie viel größer die abstimmungsberechtigte, schweigende, ängstliche, leicht zu verunsichernde Mehrheit in der Partei ausfällt, die sich 1:1 in den Ergebnissen widerspiegelt – und das dürfte in allen anderen Parteien ebenfalls der Fall sein, unabhängig vom Programm, wenn nicht sogar noch viel schlimmer.
Meine Enttäuschung betrifft ja nicht die SPD allein, sondern das Parteiwesen an sich, denn egal wie toll der Austausch an der Basis auch sein mag, die Strukturen sorgen dafür, dass nichts davon bis in die Parteivorstände vordringt, es sei denn man hat sein Hirn gemächlich verschmort und gefügig gemacht, durch das mindestens ein Jahrzehnt lang in der prallen Sonne Kugelschreiber in der Innenstadt Verteilen. So lange eben, bis von den Juso-Seele nichts mehr übrig geblieben ist. Man denke dabei an den Frosch, der nicht merkt, wie er langsam zu Tode gegart wird. Alles geht für die heutige Zeit einfach viel zu langsam, obwohl es längst anders ginge. Gedacht wird in 4-Jahres-Zyklen, während bereits das ganze Haus in Flammen steht. Dann nehme ich lieber die Feuerleiter und hole Hilfe.
Ein Kevin Kühnert macht noch keinen Sommer, ich bin alt genug um mich an eine andere Andrea Nahles zu erinnern, der die heutige vermutlich mindestens so fremd wäre, wie mir. Das Problem sind nicht die Köpfe, sondern dass wir lieber über die Köpfe streiten, als über Themen. Das haben die Piraten schon vor Jahren richtig erkannt, und ich erinnere mich noch gut genug an meine eigene Abneigung gegenüber dem Gedanken, dass dort niemand längerfristig sein Gesicht der Partei zur Verfügung stellen würde – jetzt habe ich es endlich selbst als des Übels Wurzel begriffen. Liquid Democracy, das wär’s gewesen, die Ideen mögen ja für den Moment verdampft sein, irgendwann kehren sie noch als rettender Regen zurück, oder fallen auf die Asche von dem, was dann noch übrig ist.
Themen und Diskurs sind halt langweiliger als Sympathien, wir sollten Politik vielleicht sportlicher betrachten, beispielsweise – und um verdächtig Tagesaktuell zu bleiben – wie unsere Fussball-Nationalmannschaften, die der Frauen ebenso wie die der Männer. In beiden Fällen besetzen die ja die gleiche Anzahl an Positionen auf dem Feld, alle nach ihrer jeweiligen Kompetenz, nur ehrenamtlich. Wer auf seinem Themengebiet Spitzenleistung zeigt, ein guter Teamplayer ist, der wird vom Trainer bzw. Bundespräsidenten berufen, trainiert, eventuell aufgestellt, auf die Ersatzbank geschickt oder durch einen besseren Kandidaten ausgetauscht, denn jeder irrt hin und wieder. Das Beispiel ist alles andere als perfekt, nur in Sachen Dynamik und grundsätzlicher Austauschbarkeit, etwa bei Verletzung des Grundgesetzes, hinkt es keineswegs. Schiedsrichter, Videobeweis, rote Karten. Der Bundestag wäre lebendig wie nie zuvor. Denn wenn es den Hofnarren überlassen bleibt, die wesentlichen Dinge anzusprechen, ob in der Anstalt oder im europäischen Parlament, dann gehört eben ihnen meine Stimme. Das ist kein Populismus, sondern pure Verzweiflung, die aber immer noch ernster zu nehmen ist, als alles, was derzeit im Bundestag sitzt. Das ist doch das eigentliche, geistige Armutszeugnis. Keine Partei verdient meinen monatlichen Mitgliedsbeitrag, der ist bei all jenen Organisationen besser aufgehoben, die sich schon heute dort tatkräftig engagieren, wo unsere Berufspolitiker im Dornröschenschlaf verweilen, und die Handlung auf bequeme Nebenschauplätze verlagern – und es werden von Tag zu Tag immer mehr Themenfelder, wo das Engagement zahlreicher Organisationen, Stiftungen und Vereine das Versagen der Institutionen mildert; reichen wird das nicht, eine Wende muss politisch gewollt sein. Haltung, Glaubwürdigkeit und Rückgrat erkennt man an unseren Taten. Die gibt es auch in den Parteien, aber ich kann sie nur von außen unterstützen, nicht von Innen.
Ich glaube nicht mehr daran, dass sich auf absehbare Zeit etwas in unserem Politikbetrieb ändern wird, auf jeden Fall nicht von Innen heraus, das hab ich für mich getestet, und hake es hiermit für mich ab. Die Mühlen der Politik sind viel zu langsam, die Leute kleben auf ihren Posten und in ihren Sesseln, haben den Kontakt zur Basis verloren, zu jener Minderheit in den Parteien, die sich dort überhaupt engagiert, zum Bürger. Das Volk sieht ja nur zu und nickt. Der alte Dampfer SPD hat zwar zur Wende angesetzt, genau wie die Titanic, nachdem sie den Eisberg gerammt hat. Darum bin ich jetzt ins kalte Wasser gesprungen, während dort an Bord weiter die Kapelle spielt, als sei nichts geschehen, als treibe man in dreieinhalb Jahren immer noch an der Wasseroberfläche herum.
Erfriere ich dort? Ja, vielleicht. Vielleicht wärmen mich aber auch die Körper der dort Ertrinkenden, bis ich selbst einer von ihnen bin. Und machen wir uns nichts vor, ich bin einer von ihnen, auch an Land kann man ertrinken, das Mittelmeer ist überall, Auschwitz ist überall, das Monströse im Menschen ist überall, auch in uns. Und je mehr sich unser Widerstand abnutzt und wir abstumpfen, desto größer wird es in uns selbst, scheint durch uns hindurch, wird nach außen sichtbar, wenn wir nur zusehen, nicht einschreiten, hinterher von nichts gewusst haben wollen, wie unsere Vorfahren. Dann lieber vergeblich strampeln, Wasser treten, Wellen schlagen.
Was wir jeden Tag tun müssen fällt nur am Anfang schwer: diesem Wahnsinn etwas entgegen zu setzen, da und dort wo es andere sehen können, wo es Wirkung zeigt. Verschwenden wir unsere Energie nicht auf jene, die den Hass weiter verbreiten, sondern helfen wir jenen, die für unsere Energie und Hilfe empfänglich sind, in der Familie, im Beruf, beim Bäcker, auf der Straße, im Alltag, im Lokal an der Ecke, in der Lokalpolitik. Dann – und nur dann sind wir die Wellen, die andere ein Stückchen weiter tragen. Verbreiten, funken und senden wir, mal als Teilchen, mal als Welle, breiten wir uns langsam aus, als Berg und Tal, unaufhaltsam.
Wir sind das Meer.