Lieblingsszenen-014
Ein Kuss wie kein anderer ist es, wenn es zugleich der Erste ist. Um so tragischer, wenn es erst im Erwachsenenalter ist, wie in einem meiner für-immer-in-den-Top-5 verharrenden Filme, BRAZIL von Terry Gilliam (ab Minute 6:52):
ein jungmännlicher Kuss (bitte Bild anklicken)
Allerdings kann man den Film so interpretieren, dass es nicht mal diesen ersten Kuss wirklich gegeben hat, sondern dass er bereits nur in der Phantasie von Sam stattfindet. Denn woher weiss Jill wo Sam wohnt? Es gibt zwar einen Dialogfetzen, der auf einen früheren gemeinsamen Aufenthalt in seiner Wohnung anspielt, nur hat es den nie gegeben, bzw. ist er geschnitten, oder nie gedreht worden. So oder so ist dieser Dreh genial, denn dann bleibt nur die Interpretation übrig, dass es sich um Sam’s Traum handelt. Es macht einen großartigen Film mit zu jenem Meisterwerk, der er ist, und mich zu einem lebenslangen Fan von Terry Gilliam.
Nur ein herrlich bekloppter Spinner wie er kann einen derartigen Musikeinsatz auf den Kuss legen, wo in einem Horrorfilm Katzen durchs Bild springen würden! Jonathan Pryce spielt nicht nur in dieser Szene umwerfend gut, sondern bietet in BRAZIL wohl die Performance seines Lebens. Selten danach habe ich ihn als einen derartigen Sympathen besetzt gesehen, oder erneut sein komödiantisches Potential bestaunen dürfen. Sein Timing ist absolut perfekt. Wie gerne würde ich ihm persönlich für seine Leistung in diesem Film danken, aber ich bin ihm nie begegnet. Nur einmal zufällig in London an ihm vorbei gelaufen, und es zu spät gerafft. Dann überlegt ob es gut käme, ihm schnell hinterher zu laufen, mit deutschem Akzent nach einem „Mista Preisss!“ zu rufen, ihn links zu überholen (weil ich vergessen würde, dass ein Brite aufgrund des Linksverkehrs lieber rechts überholt wird – wobei nicht unbedingt von einem Deutschen…) und dann zwei Minuten lang idiotisch herum zu stammeln. Bei der Vorstellung habe ich es dann lieber bleiben lassen.
Kim Greist ist mir hingegen weder davor noch danach irgendwo positiv aufgefallen, oder begegnet. Zu mehr als dieser Geste hätte es auch bei mir nicht gereicht, nachdem ich in BATTLE OF BRAZIL über die Dreharbeiten gelesen habe:
Überzeugende Argumente
Wobei ich nicht nachtragend sein möchte. Terry Gilliam würde ich immer noch gerne fragen, ob zwischen der Szene, in der Archibald ‚Harry‘ Tuttle vom Papierkram verschlungen wird, und jener in der Sam bei der Trauerfeier der Freundin seiner Mutter ankommt, nicht noch eine war… mir kommt es jedes mal so vor, als würde dort eine Szene fehlen.
Was an BRAZIL wohl ewig zeitlos bleibt ist, dass es den Wendepunkt markiert, an dem man sich als intelligenter Mensch in einem kaputten Gesellschaftssystem nicht mehr verstecken kann. Vorbei die Tage, als man als Franz Kafka oder Fernando Pessoa in der öffentlichen Verwaltung in Lohn und Brot stehen konnte, und in seiner Freizeit uneigennützig Kultur für die Nachwelt zu schaffen.
Wobei… während meines Zivildienstes bin ich einem Arzt begegnet, der je ein Quartal pro Jahr mit bei seinen Kollegen unbeliebten Archivarbeiten sein Geld verdiente, und die verbleibende Zeit des Jahres mit Schreiben, Lesen und Musikhören zubrachte. Wie Sam Lowry in einem Archiv sitzen war im letzten Jahrhundert eben noch möglich, heute ist das Private mit dem Beruflichen derart vermengt, dass man gar nicht mehr zur Ruhe kommt. Gibt es einen Fernando Pessoa in Zeiten des Internets?
Ich kenne viele, die diesen Film deprimierend finden, dabei liebe ich ihn gerade für sein kompromissloses „Happy-End“ – und man könnte es glatt mit dem falschen Ende von BLADE RUNNER (1982) verwechseln. Und nicht mal Orson Welles in CITIZEN KANE (1941) kann mit seinem „Rosebud“ an die Titel-Auflösung am Ende des Films mit BRAZIL mithalten, wenn Sam im Folterstuhl den Titelgebenden Song anstimmt.
Ich bleibe dabei: BRAZIL ist perfekt.
The same thing in English after the click.